Kulturelle BesinnungDr. Stefan Etgeton Sinnliche Vernunft als PräventionPrävention, die am Verhalten der Einzelnen ansetzt, hat es in der Regel mit Gewohnheiten in den Bereichen Ernährung, Bewegung, Drogen oder Sexualität zu tun. Ein zentrales Thema der Prävention ist daher das Verhältnis von Lust und Gesundheit: also die Frage der Genussfähigkeit. Einerseits steht das Gesundheitsinteresse oftmals den Lüsten entgegen. Andererseits hängt der Erfolg der Prävention davon ab, ob sie gleichermaßen parteilich ist mit dem großen Verlangen wie mit den kleinen Genüssen des Lebens, mit dem totalen Rausch ebenso wie mit den verschämten Ausflüchten. Das Prinzip, das der Prävention zugrunde liegt, lässt sich auf einen sozusagen philosophischen Nenner bringen: aufgeklärter Hedonismus. Ihr Ziel ist sinnliche Vernunft. Es geht um nichts weniger als um die alte Sisyphosaufgabe, Realitäts- und Lustprinzip in einen erträglichen Ausgleich zu bringen. Auftrag der Prävention bleibt es, zur sinnlichen Besinnung der Sinne beizutragen, ohne die Sinnlichkeit zu rationalisieren. Die Prävention gestaltet Räume besonnener Sinnlichkeit, um die unausweichliche Tragik solcher Situationen aufzuheben, in denen solcher Situationen aufzuheben, in denen Lebensqualität und Lebenserwartung in unlösbaren Widerstreit geraten und um die gesellschaftliche und kulturelle Verlötung von „risk“ und „fun“ aufzubrechen. Dabei sind Versuche, das Risiko aus dem Leben komplett zu exorzieren, so totalitär auch immer sie in Angriff genommen werden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielmehr geht es darum, diffuse Angst in begrenzbare Furcht zu verwandeln, die Menschen im Angesicht konkreter Risiken handlungsfähig zu machen und lebbare Kompromisse zwischen widerstreitenden Motiven zustande zu bringen. Zuweilen muss man um der Fülle des Lebens willen eine Einschränkung der Lebenserwartung in Kauf nehmen. Manchmal muss man auf kurzfristigen Genuss verzichten, um das Leben und die eigene Genussfähigkeit überhaupt zu erhalten. Prävention und Gesundheitsförderung müssen aber, um sachgerecht zu sein, den Absolutheitsanspruch der Gesundheit selbst relativieren. Der Gemeinplatz „Hauptsache gesund!“ drückt - nicht ohne repressiven Unterton - etwas von der Angst aus, es könne die eigene Lebensplanung, das biographische Programm, das mit der Ausbildung gestartet wurde und mit der wohlverdienten Rente endet, durch Widerstände des Leibes, Krankheit oder Tod, aus der Fassung gebracht werden. Alle wissen, dass das Fundament solcher Prognosen aus einer bloß statistischen Wahrscheinlichkeit besteht, wonach man selbst unter die Norm einer durchschnittlichen Lebenserwartung fällt. Gesundheitsförderung und Prävention versuchen, Momente der Planung, der Voraussicht in dieses Gebiet einzuführen, um den Phänomenen Gesundheit und Krankheit den Charakter der Naturwüchsigkeit oder des Schicksalshaften zu nehmen. Dabei wandeln sie jedoch nicht nur am Abgrund der Irrationalität menschlichen Verhaltens, sondern stochern zusätzlich im Nebel einer letztlich offenen Zeit. Die kommende Zeit wird wesentlich nicht von mir erreicht, sondern kommt mir, kommt auf mich zu - eben als Zukunft. Dieser „Rest“ an Unvorhersehbarkeit ist für den Bereich Gesundheit durchaus keine „Quantité négligeable“, sondern konstituiert zu allererst das Feld, auf dem Planung und Vorsorge kleine Segmente besetzen. In dieser Hinsicht stellt die kritische Selbstbegrenzung der Gesundheitsförderung ein wesentliches Moment ihrer Professionalität dar, schützt sie vor Allmachtsphantasien, durch die sie zwangsläufig scheitern oder repressive Züge annehmen würde. Gesundheitsförderung ist daher primär keine medizinische oder sozialpädagogische, sondern eine kulturelle Kompetenz. Sie muss mit dem Sinn für Sprache und für Geschichte verbunden bleiben. Sobald Gesundheit zum Gegenstand öffentlichen Interesses wird und wir neudeutsch von „Public Health“ zu reden anfangen, schwingt der bedrohliche Klang des Wortes „Volksgesundheit“ als Echo einer noch keineswegs abgeschlossenen Vergangenheit mit. Ein wesentlicher Maßstab kritischer Gesundheitsförderung ist daher ihre Bereitschaft zur Selbstkritik und die Fähigkeit, die Traditionen der sozialmedizinischen Bevölkerungshygiene als Menetekel ihrer eigenen Herkunft zu erinnern. Die Selbstbescheidung der Gesundheitsförderung soll dieser historischen Warnung praktisch begegnen, um eine unerwünschte Wiederkehr von Verdrängtem zu verhindern.
Darum tut der Gesundheit die kritische kulturelle Besinnung gut; ja sie ist unbedingt notwendig! |